VON MYRIAM LENZ
Kneipengeschichten aus der "Traube" in Bleichenbach
Seit 1872 gibt es die Gaststätte "Zur Traube" in Bleichenbach. Wirt Bernd Syring ist hinter dem Tresen Moderator, Schlichter und Schalke-Fan. Seine Gäste: viel Stammpublikum.
BLEICHENBACH - Die Theke bildet einen großen Halbkreis um die Zapfanlage. Derjenige, der auf der Bank ganz rechts sitzt, kann sich ohne Probleme mit dem, der auf dem Barhocker ganz links sitzt, unterhalten. Dazwischen steht Bernd Syring. Er ist Wirt, Moderator, Schlichter und Schalke-Fan. Das erfordert das Talent zum Zuhören, Frotzeln und Einstecken. Die Theke ist wie WhatsApp - nur, dass die Leute nicht gebannt auf das Display ihres Handys schauen, sondern sich beim Unterhalten anblicken. Die Plätze rund um die Theke in der Gastwirtschaft "Zur Traube" in Bleichenbach sind gut besetzt. Vom Kneipensterben keine Spur. Im Betrieb von Bernd und Corinna Syring haben alle gutzutun. Johannes Kraft gründete die "Traube" 1872. Im Jahr 1997 hat Bernd Syringdie Gaststätte von seinen Großeltern offiziell übernommen. Heute ist sie das einzige Lokal in Bleichenbach. Der 54-Jährige öffnet die Tür zum großen Saal. Rund 250 Leute haben hier Platz. Früher war hier ein Kino, es wurde geturnt, Tischtennis gespielt, Karnevalsveranstaltungen fanden hier statt. "Noch vor Büdingen, Gedern und Nidda", betont der Wirt. Dichtes Netzwerk in der Wetterau gibt es zahlreiche alte Kneipen, in denen die Säle verwaisen. Deren Geschichten ähneln sich: Früher tanzte der Bär, das halbe Dorf. Dann wurden Dorfgemeinschaftshäuser gebaut, das Freizeitverhalten veränderte sich, die Säle der Gastwirtschaften wurden nur noch vereinzelt für Familienfeiern oder Trauergemeinden genutzt.
So hat es 1902 in Bleichenbach ausgesehen: Eine Zeichnung zeigt die Wirtschaft und die Bäckerei von Johannes Kraft. "Die Traube" trotzt dem Trend. Vor allem durch das Engagement der Familie Syring, ein dichtes Netzwerk und wegen der Fußballer. Alle vier Wochen finden freitags Schiedsrichtersitzungen mit 60 bis 80 Leuten statt. Auch der Kreisfußballausschuss tagt hier regelmäßig. Darüber hinaus waren Persönlichkeiten wie Karl Oertl, Ivan Rebroff, Olga Orange und etliche Prominenzen aus dem Sport oder dem Jazz schon in der Gaststätte. Bernd Syring pflegt den Kontakt zu den Vereinen, beliefert bei speziellen Anlässen sogar Gesellschaften, die in der Dorfmitte feiern. An der Theke wurden schon oft die Initialzündung für Arbeitseinsätze im Dorf gegeben.
Engagieren sich die Bewohner beispielsweise bei Arbeiten am Friedhof oder am Kindergarten, spendiert der Wirt auch mal Frühstück für die Helfer oder ein Fass Bier. "Bei unseren Stammgästen sind wir sehr großzügig. Und es kommt auch immer wieder etwas zurück. Hier in der, Traube'", sagt Syring, "findet das Dorfleben statt."2011 wurden Veränderungen notwendig. "Wenn man mit dem Geschäft groß geworden ist, dann verliert man den Blick für das Neue. Man fährt einfach seine Schiene weiter", erzählt Bernd Syring. Der zweifache Familienvater entschied sich damals für einen wichtigen Schritt, um die Gaststätte am Laufen zu halten: Er nahm die Hilfe eines Beraters der Industrie- und Handelskammer in Anspruch, ließ sich also in seinen Betrieb "reinreden". Gemeinsam entwickelten sie ein komplett neues Programm. Mit der Unterstützung von Freunden renovierte er die Gaststätte, baute den Saal um, renovierte die alte Gaststätte zur Straße und richtete eine Sports-bar für die Fußballfans ein. Nach und nach erhielt alles ein neues Gesicht. Großer Freundeskreis.
Auf ihren großen Freundeskreis kann sich die Familie Syring immer verlassen. Ist etwas aufzubauen oder ist ein Arbeitseinsatz notwendig, stehen sofort mehrere Helfer parat. Der Zusammenhalt unter den Freunden habe ihn geprägt. Das, findet Syring, sei das Schöne in Bleichenbach. Man kennt sich. Und Bernd Syring kennt wohl die meisten Bleichenbacher. In die "Traube" kommen sehr viele Stammgäste und mit den meisten ist er per du. Am Tresen wird viel über Fußball gefachsimpelt, über Politik sinniert. Und: "Die Leute gehen in die Wirtschaft, weil sie was erfahren wollen." Stammgäste plaudern, der Bernd Syring habe ein besonderes Gespür für die Gäste. "Dawächst man rein", winkt er ab. Schon mit zehn, elf Jahren halfen er und sein Bruder an der Theke. Auch seine Hausaufgaben erledigte er in der Gaststube. "Wusste ich nicht weiter, konnte mir immer irgendeiner helfen." Im Zuge der Umgestaltung wurde auch das Speisenangebot geändert: Fortan standen über 33 Schnitzelvarianten auf der Karte. Der Renner in Bleichenbach sind jedoch immer noch die Riesen-Koteletts, die auf einem Holzbrett serviert werden.
Die Koteletts waren auch schon früher sehr beliebt: Zu Zeiten seines Vaters schlichen sich die Kurgäste der Benediktusquelle in Selters trotz eindringlicher Warnung der Ärzte über die Hohl nach Bleichenbach, um die Koteletts und die Thüringer Brätt'l zu essen.
Der älteste Stammgast ist 94 Jahre alt, die Jüngsten sind im Alter seines Stiefsohns Bastian Bauer, der 16 ist. Den jungen Leuten gefällt es in der Traube. Auch Bastians Schwester Milena (18) bekräftigt, dass die Jugendlichen hier gerne herkommen. Es sind die Töchter und Söhne der Eltern, die selbst regelmäßig in die "Traube" gehen. Oft würden sie und ihre Freunde mit ihren Eltern zusammen feiern. "Das ist das Schöne, wenn Jung und Alt einfach zusammensitzen", ergänzt Milena. "Das Feiern ist teuer", findet Bastian. Die moderaten Preise in der "Traube" kommen den jungen Leuten entgegen.
"Die Kneipen sterben fast alle aus. Wir sind die letzten, die noch Stammgäste haben", sagt Bastian. Bastian und Milena sind mit dem Betrieb groß geworden. Gehen sie mal Auswärtsessen, beurteilen sie das Angebotene aus einer anderen Perspektive. Unfreundlichkeit und langes Warten bei wenig Kundschaft geht für sie gar nicht. Es müsse schmecken und die Stimmung passen.
Bastian Bauer macht gerade eine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik. Und er spielt mit dem Gedanken, später einmal die Gastwirtschaft weiterzuführen. Allerdings würde er dann verkleinern. "Es ist nicht das leichteste Geschäft, ich sehe ja, welchen Stress meine Eltern haben." Man müsse heutzutage viel erneuern, um mithalten zu können. Und doch: "Uns macht das stolz, dass wir vor ein paar Jahren noch eine Standard-Kneipe waren und jetzt so groß geworden sind."